Rasanz

Vor uns im Sand sitzt ein Fabelwesen. Sein Name ist Cicindela. Und wir starren uns an. Die Cicindela ist kaum halbfingerlang, doch ihre Präsenz ist so fühlbar, als stünde dort ein Elefant. Es muss das aufgestaute Licht sein, die alles durchdringende Hitze, die sich in ihr konzentriert hat und nun den Blick bannt. Ein Quadratzentimeter schimmerndes Chitin, der Brennpunkt der Sonne: Sechs Beine, zwei Flügeldecken, zwei Augen wie Scheinwerfer, dahinter der federleicht pulsierende Insektenkörper. Der Küsten-Sandlaufkäfer steht vor uns wie ein Sportwagen mit 1000 Pferdestärken, ein Leichtgewicht mit überdimensioniertem Motor, immer kurz vor dem Abheben. Bronzen schimmernde Flügeldecken vibrieren im flirrenden Strom erhitzter Luftmoleküle. Schon im nächsten Moment kann das Wesen in explosiver Rasanz auf und davon sein. Dieses Tier ist reines Potenzial zu Bewegung. Es ist die im Augenblick erstarrte Inkarnation von Geschwindigkeit.

Aber noch sitzt die Cicindela dort. Mit dem Fernglas lässt sich beobachten, wie sie sich auf uns ausrichtet, wenn wir vorsichtig die Position verändern. Selbst die körperlose Berührung unserer Schatten würde sie so unvermittelt verscheuchen, als hätte man mit der plumpen Hand danach gegriffen. Ihr Kopf ist ganz Facettenauge: Zwei ballonartig aufgeblasene, hypersensible Sehorgane, die zu nichts anderem dienen, als grazile, dolchspitze Mandibeln ins Ziel zu führen. Es sind die Kiefer eines Räubers. Wenn die Sonne am Himmel aufsteigt, sucht Cicindela maritima ihre Beute in den tangduftenden Spülsäumen einsamer Strände. Was dem Vampir die Dunkelheit der Nacht, ist ihr die Hitze eines Strandtages. Und wenn sie auch nur kleine Fliegenlarven davonträgt – der englische Name der Gattung, „tiger beetle“, spricht Bände.

An unseren Küsten sind nur noch ganz wenige, isolierte Vorkommen verblieben. Denn wo zu viele Fußtritte oder Autospuren die Entwicklung ihrer im Boden verborgenen Brut stören, verschwindet sie bald. Auch in dieser Hinsicht ist sie den seltenen Großkatzen also irgendwie ähnlich. Unsere Strandtigerin befindet sich auf einem absoluten Tiefpunkt ihrer Bestände. Vielleicht ist sie bald für immer verschwunden.

Wenn ich mich im Versuch, sie zu erhaschen (es ging um eine Erfassung der Käferfauna auf Trischen, zur sicheren Bestimmung muss man das Tier von Nahem betrachten) als blitzschnell empfinde, sitzt sie wie ein schelmisch lachender kleiner Sonnengötze längst einige Meter weiter und narrt mich erneut. Eine Sekunde - so ein kleiner Zeitraum! Für mich reicht er gerade dazu, den Arm auszustrecken, zu zielen und ganz behutsam meine Mütze über den Käfer zu werfen (einen Kescher habe ich gerade nicht dabei). Und das ist schon viel für mich. Aber die chitingepanzerte Schelmin auf dem Sand weiß diese Sekunde mit viel mehr zu füllen als ich. Mit mehr Wahrnehmung, aber vor allem mit mehr Bewegung. Es ist wie ein Wettstreit mit einem Kobold, der immer schon einen Schritt weiter ist.

Und das lehrt uns etwas über Zeit. Denn Zeit ist zwar überall mit den gleichen Mitteln messbar. Eine Sekunde auf der Uhr ist für mich, den Käfer und alles, was um uns herum geschieht, dieselbe. Aber ihre Lebensrealität erhält Zeit erst durch die Art ihrer Wahrnehmung. Und die kann unendlich unterschiedlich ausfallen. Was der Cicindela Raum gibt für eine Vielzahl koordinierter Bewegungen, reicht für mich bestenfalls um zu begreifen, dass ich schon wieder daneben gezielt habe. 365 Tage sind für einen 400 Jahre alten Eishai etwas ganz anderes als für einen Menschen, ein verschlafener Tag für uns ist für eine Fliege, die in wenigen Stunden schlüpft, sich paart und ihr Leben aushaucht, eine Ewigkeit. Fragt einen Verliebten oder eine Gelangweilte, was eine Stunde ist, und ihr stellt fest, was sie intuitiv längst wussten: Dass Zeit etwas ganz anderes ist als der Abstand zwischen zwei Strichen auf einer Uhr.

Kann man Zeit festhalten? Unmöglich. Sie ist permanent anwesend und doch völlig ungreifbar. Ein bisschen wie der in der Sonne funkelnde Käfer, der zum Brennpunkt dieser Gedanken wurde. Und doch ist es möglich, einen Eindruck von Zeit und Bewegtheit zu vermitteln. Es erscheint paradox, aber Jan ist es gelungen, mit den statischen Mitteln des Bildes den Eindruck von Bewegtheit in Tinte umzusetzen. Spürt ihr die Rasanz des Insektes? Das Trippeln, Schwirren und Huschen über dem Strand?

Wir haben uns sehr bald wieder zurückgezogen. Cicindela maritima braucht ihre Ruhe. Denn so sehr sie unsere Welt bereichern: Wenn man Fabelwesen zu sehr auf den Grund geht, verschwinden sie.

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