Gold und Jade

Vor uns im Nebel liegt die Insel. Zur Insel führt ein Weg kilometerweit durchs Watt, das im milchigen Nichts versunken ist. Und irgendwo in diesem Nichts, vielleicht in einem Stückchen Busch, vielleicht in einem versunkenen Garten oder an einem kahlen Ast, der schwarze Finger in die dicke Suppe streckt, dort finden wir – vielleicht! – das, was wir suchen.

Aber zunächst gilt es, diesen Weg zu wagen. Steine knirschen unter den Reifen und Jim Morisson singt, als Jan das Lenkrad einschlägt. Mit jedem Meter, den der Wagen vorankommt, entsteht vor unseren Augen ein Stück Schotterpiste. Es ist, als würden wir in einem Märchen über einen magischen Abgrund wandeln, der die Brücke erst da entstehen lässt, wohin der Fuß tritt. Um uns huschen Schemen durch den Nebel. Wie ein Gespenst taucht plötzlich ein Austernfischer auf und fliegt eine Weile tief vor dem Auto her. Das wattig dicke Grau verschluckt seine Rufe. Aber irgendwann hat alle Einsamkeit ein Ende. Als wir merken, dass unsere Brücke im Nebelmeer ansteigt, lichtet sich der Blick. Da erstrecken sich Salzwiesen, in denen dunkelbraune Brachvögel stochern. Dahinter ein Stück Grünland. Und schließlich der Deich. Wir sind da – willkommen auf Mandø!

Es ist Ende Oktober. Jan und ich haben einige Tage frei genommen, um an diesem Fleckchen nach seltenen Laubsängern zu suchen. Mandø ist eine winzige Insel im dänischen Wattenmeer, und die Laubsänger sind winzige Vögel, die ihren Winter eigentlich in Südostasien verbringen sollten. Manchmal verirren sie sich nach Mandø, so wie wir uns manchmal nach Südostasien verirren. Wer weiß schon, was sie treibt?

Die Insel ist fast menschenleer. Von den wenigen Bewohnern ist kaum etwas zu sehen. Mit dem Sommer verschwinden auch die Touristen. Als beim Auspacken schließlich die Autotür ins Schloss fällt bemerke ich, wie jedes Geräusch die tiefe Stille betont. Ich fühle mich vom Dunkel des Nachmittags wie in einen Mantel gewickelt und merke, dass ich einige schwere Gepäckstücke auf der anderen Seite der Brücke gelassen habe. Ich atme durch. Nur in ganz wenigen Fenstern leuchtet Licht. Nachdem wir uns einquartiert haben, ist es eines mehr.

Wenig später nutzen wir die letzten ein, zwei Stunden vor der Dämmerung für einen Gang durch das kleine Dorf. Irgendwie erkennen Leute, die auf Vögel versessen sind, sich offenbar immer. Denn als schon nach ein paar Schritten ein silberner PKW neben uns hält, entsteigen ihm zwei Männer, die noch im Türöffnen fragen, was wir schon gesehen hätten. Die beiden Dänen sind ein Erlebnis für sich. Der eine klein, aufmerksam und flink, der andere riesengroß, ein blonder Bär mit einer Stimme wie ein Wintergewitter. Innerhalb von Sekunden fallen die wichtigen Namen: „Yellow browed“, „Hume’s“, „Dusky“. Das sind die Juwelen, die hier neben den letzten Staren und etlichen Wintergoldhähnchen zu finden sein können (für den vollständigen englischen Namen müsste man jeweils noch leaf warbler ergänzen) – Gelbbrauenlaubsänger, Tienshanlaubsänger, Dunkellaubsänger. Erstere werden inzwischen regelmäßig an der Nordseeküste beobachtet. Die anderen sind viel, viel seltener. Und dann sagt der Große mit seinem Donnerbass, hastig hervorgestoßen zwischen zwei Rauchzügen: „We’ve had a Pallas’s over there“ und zeigt Richtung Deich, ein paar hundert Meter weiter nördlich. Pallas’s leaf warbler – ein Goldhähnchenlaubsänger! Wir sind wie elektrisiert. Doch nun fällt schon die Dunkelheit ein. Wir sind längst auf dem Weg, als hinter uns die nächste Zigarette aufglimmt.

Goldhähnchenlaubsänger brüten in Ostsibirien. Selbst die Gedanken brauchen eine Weile, bis sie diesen Ort erreichen. Den Winter verbringen diese Miniaturvögelchen in Südchina und Vietnam. Aber wie kann ein Lebewesen, das keine zehn Gramm wiegt, seinen Weg zu uns finden? Wahrscheinlich ist der sogenannte Umkehrzug die Ursache. Die Zugrichtung nach Mitteleuropa liegt nämlich genau spiegelverkehrt zu der eigentlich einzuschlagenden. Die Mehrzahl der bei uns festgestellten Individuen sind Jungvögel. Ob genetische Ursachen, Magnetfeldanomalien oder Wetterphänomene ursächlich für die weite Reise in die falsche Richtung sind (oder alles zusammen), ist noch nicht restlos geklärt. Mich würde ein Vergleich der Genetik eines bei uns aufgefundenen Goldhähnchenlaubsängers mit der eines „korrekt“ gezogenen Exemplars aus den Überwinterungsgebieten interessieren. Aber bevor sich meine Forscherstirn heiß läuft, möchte ich vor allem erst einmal eines sehen.

Und so stehen wir bei schwindendem Licht und einsetzendem Nieselregen vor einem heckenartigen Gestrüpp und tasten eine Weile etwas verloren mit den Blicken in den graubraunen Zweigen. Doch dann ist es tatsächlich nicht das Licht, das uns an diesem lichtlosen Tag den Erfolg bringt. Es ist ein Ton. Denn plötzlich hören wir den verräterischen Ruf: „TyeEEp!“ Das ist sibirisch und heißt: „Ich bin ein Goldhähnchenlaubsänger!“

Und schließlich finden wir ihn. Und nicht nur einen, sondern gleich zwei! Mitten zwischen den dicht gepackten Ästchen turnen zwei wieselflinke Federbällchen herum, nur sekundenweise zu sehen, immer wieder verschluckt vom Dunkel des Gestrüpps. Ganz kurz sitzt eines von ihnen auf einem lohfarbenen Halm davor und ich kann einen kurzen Blick darauf erhaschen: Wie eine ganz, ganz kleine, nahezu gewichtslose Kugel, mit einem spitzen Schnabel und zwei langen Beinen, ist der Vogel ganz vibrierende, zitternde Bewegung, zwischen Federn konzentrierte, pure Aufmerksamkeit. Und so unstet seine Gestalt ist, so schön sind, selbst im schwindenden Licht – oder besonders darin? – seine Farben. Auf dunkelgrünen Federn ziert eine hübsche, schmale Binde wie ein Armreif seinen Flügel, und auch das Köpfchen ist in ein Diadem aus schlanken Linien eingefasst. Ich muss unwillkürlich an ein Schmuckstück aus Jade und Gold denken. Der Vogel ist ein wahres Kleinod. Mir geht erst später auf, wie gut diese Assoziationen zu seiner Herkunft passen.

Als wir die beiden Dänen später wiedertreffen, ist die Aufregung groß: Zwei „Pallas’ses“ findet man wirklich nicht alle Tage. Jan und ich sind ganz beseelt. Dass so ein winziges Lebewesen zeigen kann, wie klein diese riesige Welt ist! Dass wir einen, wenn auch noch so kleinen, Hauch ferner Gegenden spüren durften. Dass wir diese wunderhübschen Tiere für einige Minuten beobachten durften. Tief in Nebel und sinkender Dämmerung haben wir auf Mandø einen ganz kleinen Schatz aus Federn, Gold und Jade gefunden.

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Rasanz